Leben unter Spannung, Leben mit dem Tod. „Mich wundert, dass ich so fröhlich bin!“ Ciudad de Mèxico | MX; Klagenfurt, Wien | AT; London | UK · 1986–2023 (© PP · # 2997 · www.ewigesarchiv.at)
Ich leb und waiß nit wie lang,
ich stirb und waiß nit wann,
ich far und waiß nit wahin,
mich wundert das ich [so] frölich bin.
Martinus von Biberach († angeblich 1498 in Biberach)
Obwohl der Gedanke so banal ist: ich denke auch immer wieder nach, wie das möglich ist, dass ich weiß, dass ich sterben werde (und vermutlich andere auch), dass ich im Alltag einfach von Tag zu Tag schaue, wie ich über die Runden komme, was ich einkaufe, welche Unterhose ich anziehe, welchen Film ich anschauen werde, wie ich mich „unterhalte“ etc.
Ein Buch, das mich sehr interessiert ist der Katalog zur Ausstellung „UN_ENDLICH. LEBEN MIT DEM TOD“ im Humboldt Forum Berlin, 2023.
Daraus ein Auszug aus der Einführung:
LEBEN MIT DEM TOD: EIN MENSCHLICHES DRAMA
Detlef Vögeli
»Dies also ist das Paradox: Der Mensch ist zur selben Zeit außerhalb der Natur wie hoffnungslos in ihr verfangen. Er ist eine Zweiheit, hoch oben in den Sternen und trotzdem ein vom Herzschlag belebter, nach Luft schnappender Leib, der einst einem Fisch gehörte und der immer noch dessen Kiemenmerkmale trägt. Sein Leib ist eine aus Materie bestehende fleischliche Hülle, die ihm auf mannigfaltige Weise fremd ist – das Seltsamste und Abstoßendste dabei ist, dass sie wehtun kann, dass sie blutet, dass sie altern und schließlich sterben muss.«!
Ernest Becker, Dynamik des Todes. Die Überwindung der Todesfurcht
Der Homo sapiens ist vermutlich das einzige Tier, das weiß, dass es sterben wird. Nur der Mensch ist sich seiner eigenen Existenz – und damit auch seiner Verletzlichkeit und Vergänglichkeit – bewusst. Wir wissen, dass unser Leben endlich ist und haben zugleich wie alle Lebewesen einen instinktiven Überlebenstrieb. Wir müssen leben mit dem Tod.
Der Kulturanthropologe Ernest Becker vertrat die These, dass die Furcht vor dem Tod alles menschliche Verhalten bestimmt. Diese Angst und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit sind die Haupttriebkräfte menschlichen Handelns. Sowohl die edelsten als auch die abstoßendsten Formen unseres Strebens entstammen dem Bewusstsein, dass wir sterblich sind. Das Wissen um den Tod hat den Lauf der Menschheitsgeschichte geprägt, Kultur, Zivilisation, Wissenschaft und Weltanschauungen hervorgebracht. Die Menschen ersannen Geschichten und Rituale, um das Unerklärliche fassbar, das Unerträgliche ertragbar zu machen und unserem endlichen Leben einen Sinn zu geben.
Das in aufgeklärten, säkularisierten Gesellschaften vorherrschende naturwissenschaftlich-biologistische Verständnis des physischen Todes als Ende der
menschlichen Existenz ist jüngeren Datums. Der Tod sei im Laufe des 20. Jahrhunderts aus der modernen, westlichen Gesellschaft »ausgebürgert« worden, so der französische Historiker Philippe Aries 1977 in seinem Standardwerk über die Geschichte des Todes: »Bis ins Zeitalter des wissenschaftlichen Fortschritts haben die Menschen bereitwillig an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tod geglaubt.«? Der Tod sei in die kulturellen Erzählungen der Gesellschaft integriert gewesen, ein Teil der gesellschaftlichen Sinnwelt. Aries bezeichnet den vormodernen Tod als »gezähmt«, den heutigen als »wild«.
Trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte bleibt der Tod ein Phänomen, das unseren Verstand übersteigt. Über nichts wissen wir weniger als über den Moment nach dem Tod. Der Tod ist die vielleicht letzte unverfügbare Grenze der Wissensgesellschaft.
Über den Tod zu sprechen verlangt, Vielstimmigkeit und Uneindeutigkeit zuzulassen und auszuhalten. Über den eigenen Tod und die Endlichkeit nachzudenken heißt, das menschliche Verhältnis zur Welt zu reflektieren, eine Verortung unseres Lebens in der Gemeinschaft, in der Gesellschaft, im Universum. Wenn wir über Vorstellungen vom Leben mit und nach dem Tod sprechen, sprechen wir über Weltanschauungen – jenseits von richtig und falsch. Das Wissen um die Flüchtigkeit und Fragilität des menschlichen Lebens sowie alles Lebendigen konfrontiert uns mit existenziellen und ethisch-moralischen Fragen. . . .“
Living under tension, living with death. “I’m surprised that I’m so cheerful!” Ciudad de Mèxico | MX; Klagenfurt, Vienna | AT; London | UK – 1986-2023 (© PP – # 2997 – www.ewigesarchiv.at)
I live and I don’t know how long, I die and I don’t know when, I’m far and I don’t know where, I’m surprised that I’m [so] happy.
Martinus von Biberach († allegedly 1498 in Biberach)
Although the thought is so banal: I also keep thinking about how it is possible that I know that I will die (and probably others too), that I simply look from day to day how I will make ends meet, what I will buy, what pants I will wear, what film I will watch, how I will “entertain” myself etc.
One book that interests me a lot is the catalogue for the exhibition “UN_ENDLICH. LIFE WITH DEATH” at the Humboldt Forum Berlin, 2023.
Here is an extract from the introduction:
LIVING WITH DEATH: A HUMAN DRAMA
Detlef Vögeli
“So this is the paradox: man is simultaneously outside of nature and hopelessly entangled in it. He is a duality, high up in the stars and yet a body animated by a heartbeat, gasping for air, which once belonged to a fish and still bears its gill marks. Its body is a fleshy shell made of matter that is alien to it in many ways – the strangest and most repulsive thing is that it can hurt, that it bleeds, that it must age and eventually die.”!
Ernest Becker, Dynamics of Death. Overcoming the fear of death
Homo sapiens is probably the only animal that knows that it will die. Only humans are aware of their own existence – and thus also of their vulnerability and transience. We know that our lives are finite and at the same time, like all living creatures, we have an instinctive instinct to survive. We have to live with death.
The cultural anthropologist Ernest Becker argued that the fear of death determines all human behaviour. This fear and the longing for immortality are the main driving forces behind human behaviour. Both the noblest and the most repulsive forms of our endeavours stem from the awareness that we are mortal. The knowledge of death has shaped the course of human history, brought forth culture, civilisation, science and world views. People invented stories and rituals to make the inexplicable tangible, the unbearable bearable and to give meaning to our finite lives.
The scientific-biological understanding of physical death as the end of human existence that prevails in enlightened, secularised societies is more recent.
of human existence is more recent. According to the French historian Philippe Aries in 1977 in his standard work on the history of death, death was “expatriated” from modern, Western society in the course of the 20th century: “Until the age of scientific progress, people readily believed in a continuation of life after death.”? Death was integrated into the cultural narratives of society, a part of the social world of meaning. Aries describes pre-modern death as “tamed” and modern death as “wild”.
Despite all scientific progress, death remains a phenomenon that transcends our understanding. There is nothing we know less about than the moment after death. Death is perhaps the last unavailable frontier of the knowledge society.
Talking about death requires us to allow and endure polyphony and ambiguity. Thinking about one’s own death and finiteness means reflecting on the human relationship to the world, a localisation of our life in the community, in society, in the universe. When we talk about ideas of life with and after death, we are talking about world views – beyond right and wrong. The knowledge of the fleetingness and fragility of human life and all living things confronts us with existential and ethical-moral questions. . . .”