Die Mühl-Kommune, das Ende der Kleinfamilie und der Zweier-Beziehung, Latzhosen, Wilhelm Reich und die Orgon-Akkumulatoren, Bioenergetik- und Urschrei-Seminare, „befreite Sexualität“, das Aufbrechen der „Charakter-Panzerungen“, Anti-Autoritäre Erziehung und das Geschäft mit der Kindesmissbrauchs-„Kunst“ – ein Versuch der Erinnerung an die 1970-er Jahre. (Na Prack – was für eine Abfolge!) Wien | AT · 1972–1976 (© PP · Ewiges Archiv) Schon beim Schreiben der ersten Textzeilen merke ich, dass da eine Menge Themen aufzeigen und ich nicht sicher bin, wo anfangen. Intro: Als ich 1972, nach der Matura im Gymnasium Bad Ischl – in der Schule, die auch Jörg Haider besuchte – nach Wien zum Studium kam, war die Stadt alles, nur nicht frisch & bunt. Das Ende des 2. Weltkrieges und des NS-Terrorregimes im Mai 1945 lag nicht einmal 30 Jahre zurück. Meine erste Unterkunft war eine ehemalige Schusterwerkstatt in der Haberlgasse im 16. Bezirk, in Wien Ottakring, in die ich gemeinsam mit einem Schulkollegen einzog. Bassenawohnung im Original: Hinterhof, enge Wendeltreppe, kein Wasser in der Wohnung, „Bassena“ (Wasserbecken mit Hahn) am Gang, natürlich auch das WC, das von mehreren „Hausparteien“ benützt wurde. Links unten: der Vermieter, Herr K, im Hintergrund die mehrfarbig mit einem Muster „gewalzte“ Wand. Die kleinen Fotos zeigen Passant*innen: oben links Frauen am Gürtel bei der Josefstädter-Straße, daneben ein Mann am Gürtel bei der Gumpendorferstraße. Die Frau im blau-weiß gestreiften „Hauskleid“ war Frau B., die „Hausbesorgerin“, deren Parterrewohnung direkt gegenüber des Eingangs der WG war, in der ich mit vielen anderen wohnte. Jedesmal, wenn jemand an unserer Tür läutete, bewegten sich die Vorhänge vor den Sichtgläsern ihrer Türe. Daneben: Ein Mann im Prater vor einem gemalten Flipper. Warum der Mann rechts vor mir gekniet ist, weiß ich nicht mehr – das hat aber sicher damit zu tun, dass meine Kamera auffällig war: Ich hatte eine ziemlich große, 2-äugige Rolleiflex-Kamera umgehängt und ab und zu reagierten Passant*innen darauf. (Diane Arbus, schau oba!)
Die beiden jungen Männer im großen Foto rechts waren jedenfalls sicher Teil der kleinen damaligen Alternativ-Szene, die sich immer stärker zu Wort meldete. Aufgenommen beim Flohmarkt, der vor der Übersiedlung zum Naschmarkt im ersten Bezirk „Am Hof“ war. Im Hintergrund das Gebäude der VERBUND-GESELLSCHAFT.
Wie schlage ich jetzt den Bogen zur Mühl-Kommune und zu den eingangs geteaserten Begriffen? (Ohne einen noch längeren Text schreiben zu müssen?) Vorab – ich selbst war nie Mitglied, hatte aber ab und zu bei Seminaren wie den genannten Kontakt zu Mitgliedern und war immer wieder einerseits fasziniert, andererseits verschreckt. Die beiden Automaten-Fotos von mir (links) wurden kurz nacheinander aufgenommen – ich hatte mir die Haare schneiden lassen, weil mich eine Freundin völlig überraschend verlassen hatte. So wie im rechten der beiden hätte ich wohl als Mitglied der Kommune ausgeschaut.
In den 1970-er Jahren waren die Mitglieder der vom Aktionisten Otto Mühl gegründeten „Mühl-Kommune“ immer wieder sehr präsent, zB. am Flohmarkt: Frauen und Männer mit kurzgeschorenen Haaren, blau-weiß gestreifte Latzhosen. Sehr selbstbewusstes Auftreten, das zeigte, dass alle anderen Spießer*innen, Klein-Familien-Bürger*innen waren. Nicht unsympathisch in der Öffentlichkeit, aber oft sehr bestimmt. Sie verkauften am Flohmarkt, übernahmen Transporte etc. Aus der „Mühl-Kommune“ ging die AAO hervor:
„Die Aktionsanalytische Organisation (AAO), auch als AA-Kommune, Muehl-Kommune oder Friedrichshof-Gruppen bezeichnet, war eine etwa 1970 aus einer Wohngemeinschaft entstandene Kommune, die von dem Aktionskünstler Otto Muehl gegründet wurde. Sie umfasste in ihrer Blütezeit bis zu 600 Mitglieder. Die AAO verstand sich als Gesellschaftsexperiment, als Modell einer zukünftigen Form des Zusammenlebens und bezeichnete ihre Prinzipien als „neuen Humanismus“. Muehls Wiener Kommune war zunächst eine unter vielen. Im Sommer 1972 begann Muehl, Sprechstunden für die Mitglieder einzurichten, und nannte diese Behandlung alsbald „Aktionsanalyse“. Theoretische Grundlage der nun entstandenen AAO war eine postulierte Rückkehr zur Natur und freien Liebe. Weitere theoretische Grundlagen waren eine Mischung aus Thesen von Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx, Wilhelm Reich („Charakteranalyse“), Psychodrama, Arthur Janov („Urschrei“) und Parolen der 1968er linken Studentenbewegung zur Befreiung der Sexualität. Die gesellschaftlichen Zustände wurden von der AAO auf die schädlichen Auswirkungen des Lebens in Kleinfamilien zurückgeführt. Die so entstandene Charakterpanzerung sollte aufgebrochen werden, indem in einer Art Schauspiel, innerhalb der Kommune „Selbstdarstellung“ genannt, alle Angst-, Scham- und Ekelgefühle sowie Tabus radikal zu durchbrechen waren. Das sollte zu einer Art „Wiedergeburt“ führen und zu einem höheren Bewusstsein („AA-Bewusstsein“). Ziel war ein neues Gesellschaftsmodell, das weltweit eingeführt werden sollte. Die Kommunemitglieder wurden eine Zeit lang nach ihrer entsprechenden "Bewusstseinsstufe" im Sinne einer Hackordnung durchnummeriert.
Nach Ansicht von Kritikern war die AAO allerdings eine autoritäre und hierarchische Organisation mit uneinlösbaren Heilsversprechen, verkürzten Antworten auf komplexe Probleme, welche immer wieder auf einen zu repressiven Umgang mit Sexualität zurückgeführt werden, einer extremen Abgeschlossenheit gegen Kritik und Zweifel, elitären und teilweise endzeitlichen Vorstellungen und einer sehr starken Konzentration auf Otto Muehl als Führer und Vordenker, was zu kontroversen und teils sehr kritischen Bewertungen führte. . . Otto Muehl, Gründer und Oberhaupt der Gruppe, wurde am 13. November 1991 in Eisenstadt im österreichischen Burgenland zu 7 Jahren Haft verurteilt. Anklagepunkte waren die Praktiken in seiner Organisation, Unzucht und Beischlaf mit Unmündigen, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses und diverse Drogendelikte. Muehl gab die Beschuldigungen größtenteils zu. Nach späteren Aussagen von Muehl, die im Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt wurden, waren viele Mitglieder der AAO an sexuellem Missbrauch beteiligt, wozu unterschiedliche Berichte existieren. Im Anschluss an die Verurteilung löste die Gruppe sich auf.“ (wiki)
Jedenfalls wurden sämtliche meiner damaligen Projektionen schlagartig aufgelöst, als ich den Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ von Paul-Julien Robert (Österreich, 2013, 93 Min.,) der selbst ein Kind der Kommune war und dort aufgewachsen ist, gesehen habe. Er thematisiert im Film den Kindesmissbrauch an seiner eigenen Person.
Auch der Regisseur Paul Poet beschäftigt sich in seinem Film „My Talk With Florence" mit dem Thema Missbrauch in der Kommune am Friedrichshof
The Mühl commune, the end of the small family and the two-person relationship, dungarees, Wilhelm Reich and the orgone accumulators, bioenergetics and primal scream seminars, “liberated sexuality”, the breakup of “character armor”, anti-authoritarian education and the business of child abuse “art” – an attempt to remember the 1970s. (Well Prack – what a sequence!) Vienna | AT · 1972–1976 (© PP · Eternal Archives) As soon as I write the first few lines of text, I notice that there are a lot of topics and I’m not sure where to start. Intro: When I came to Vienna in 1972 after graduating from high school in Bad Ischl – in the school that Jörg Haider also attended – the city was everything, just not fresh and colorful. The end of World War II and the Nazi terror regime in May 1945 was less than 30 years ago. My first accommodation was a former shoemaker workshop in Haberlgasse in the 16th district, in Vienna Ottakring, where I moved in with a school colleague. Original Bassen apartment: back yard, narrow spiral staircase, no water in the apartment, “Bassena” (water basin with tap) in the corridor, of course also the toilet, which was used by several “house parties”. Bottom left: the landlord, Mr. K, in the background the multicolored “rolled” wall. The small photos show passers-by: top left women on the belt at Josefstädter-Strasse, next to it a man on the belt at Gumpendorferstrasse. The woman in the blue and white striped “house dress” was Ms. B., the “house keeper”, whose apartment on the ground floor was directly opposite the entrance to the shared apartment, in which I lived with many others. Every time someone rang our doorbell, the curtains moved in front of the sight glasses on her door. Next to it: a man in the Prater in front of a painted pinball machine. I no longer know why the man kneeled on the right in front of me – but that has to do with the fact that my camera was conspicuous: I had a fairly large, two-eyed Rolleiflex camera and I occasionally had passersby reacting to it . (Diane Arbus, look oba!)
The two young men in the large photo on the right were certainly part of the small alternative scene at the time, which was becoming increasingly popular. Recorded at the flea market, which was “Am Hof” in the first district before moving to the Naschmarkt. In the background the VERBUND-GESELLSCHAFT building.
How do I now connect to the Mühl community and the terms tapped at the beginning? (Without having to write an even longer text?) First of all – I was never a member myself, but occasionally had seminars like the aforementioned contact with members and was always fascinated on the one hand, and frightened on the other. The two machine photos of me (left) were taken in quick succession – I had my hair cut because a friend had left me completely unexpectedly. As in the right of the two, I would have looked like a member of the community.
In the 1970s, the members of the “Mühl-Kommune” founded by the campaigner Otto Mühl were always very present, for example. at the flea market: women and men with short hair, blue and white striped dungarees. Very self-confident demeanor, which showed that all other philistines were small-family citizens. Not unappealing in public, but often very determined. They sold at the flea market, took over transports, etc. The AAO emerged from the “Mühl-Kommune”:
“The Action Analysis Organization (AAO), also known as AA-Kommune, Muehl-Kommune or Friedrichshof-Gruppen, was a community that emerged around 1970 from a shared apartment and was founded by the action artist Otto Muehl. In its heyday it had up to 600 members. The AAO saw itself as a social experiment, as a model for a future form of living together and described its principles as “new humanism”. Muehl’s Viennese community was initially one of many. In the summer of 1972, Muehl began to set up consultation hours for the members and soon called this treatment “action analysis”. The theoretical basis of the AAO that has now emerged was a postulated return to nature and free love. Further theoretical foundations were a mixture of the theses of Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx, Wilhelm Reich (“character analysis”), psychodrama, Arthur Janov (“primal scream”) and slogans of the 1968 leftist student movement for the liberation of sexuality. The AAO attributed social conditions to the harmful effects of life in small families. The resulting armor of character was to be broken up by radically breaking through all feelings of fear, shame and disgust as well as taboos in a kind of drama called “self-expression” within the municipality. This should lead to a kind of “rebirth” and to a higher consciousness (“AA consciousness”).
The goal was a new social model that was to be introduced worldwide. For a while, the community members were numbered according to their corresponding “level of consciousness” in the sense of a pecking order.
According to critics, the AAO was, however, an authoritarian and hierarchical organization with unsolvable promises of salvation, shortened answers to complex problems, which are repeatedly attributed to overly repressive dealing with sexuality, an extreme isolation from criticism and doubts, elitist and sometimes end times ideas and a very strong focus on Otto Muehl as a leader and pioneer, which led to controversial and sometimes very critical evaluations. . . Otto Muehl, founder and head of the group, was sentenced to 7 years in prison on November 13, 1991 in Eisenstadt in Burgenland, Austria. The indictments were the practices in his organization, fornication and sleeping with minors, abuse of an authority relationship and various drug-related offenses. Muehl largely admitted the accusations. According to later statements by Muehl, which were broadcast on Bavarian television, many members of the AAO were involved in sexual abuse, and various reports exist on this. After the conviction, the group disbanded. ”(Wiki)
In any case, all of my projections at that time were suddenly dissolved when I saw the documentary “Meine keine Familien” by Paul-Julien Robert (Austria, 2013, 93 min.), Who was himself a child of the community and grew up there. In the film, he addresses child abuse about himself.
In his film “My Talk With Florence”, director Paul Poet also deals with the topic of abuse in the community at Friedrichshof