Ich vermute, es macht nur dann Sinn, Aufzeichnungen von Geschehnissen zu behalten, wenn man genau das beabsichtigt: sie zu behalten. Es gab Orte in meinem Leben, an denen ich zu gewissen Zeiten selbst das Gefühl hatte, etwas behalten, etwas festhalten zu müssen. Polen beispielsweise, ein Land, das ich mehr als einmal „Heimat“ genannt habe in den vergangenen 36 Jahren, um genau zu sein, seit meinem ersten Besuch im Jahre 1978. Die Aufzeichnungen, welche ich aufbewahre, sind meist aufgeschriebene. Mit dem Gedanken, möglicherweise einige meiner bewahrten Zeiten und Orte zu dem vorliegenden Band des Ewigen Archives beizutragen – dessen Autor übrigens ebenfalls längere Zeit im Polen der späten 1970er Jahre gelebt hatte –, habe ich meine Archive durchgeblättert und einen mit Mai 2007 datierten Eintrag gefunden. Heute, sieben Jahre später, habe ich das Bedürfnis, ihn neu zu betrachten, um zu sehen, ob er sich – unter anderem Licht – verändert hat. Ich sehe, dass ich diesem Eintrag, nachdem ich ihn verfasst hatte, sogar einen Titel gegeben habe:
„Harmlos“ – Nach fünf Monaten ist der große, diagonal durchgestrichene Davidstern mit der Inschrift Anty-Jude („Jude“ auf deutsch geschrieben) auf einer Betonmauer neben der Einfahrt zu einer Wohnsiedlung am südlichen Stadtrand von Krakau endlich unter einer frischen Schicht grauer Farbe verschwunden. Die Siedlungsverwaltung war also im Frühling schließlich doch imstande, den zu Weihnachten erschienenen Antijuden-Stern übermalen zu lassen. Das Graffiti war ungefähr einen Meter hoch, eineinhalb Meter breit und es war das einzige, das an dieser Stelle zu sehen war. Man hätte es auch schwer übersehen können: Die Haupteinfahrt zur Siedlung mündet zwischen einer Bus- und einer Straßenbahnhaltestelle gleich vor dieser Mauer in eine dicht befahrene Landstraße.
Kaum eine Woche nach seinem Verschwinden ist das gleiche Graffiti wieder aufgetaucht, dieses Mal an der Wand neben dem Aufzug am Eingang eines Wohnhauses in der Nähe. Und beim Betreten des Aufzugs trifft man sie wieder: durchgestrichene Davidsterne und Anty-Jude. Diese groben Filzstiftzeichnungen bedecken alle drei Wände des Aufzugs und sogar die Falttür. Auch hier, wie am Haus-eingang, sind es die einzigen Graffitis, die man sieht.
Frau Pawłowska, Mutter eines vierzehnjährigen Gymnasiasten, erzählt gern von ihrem Sohn, der „nur für den Fußball lebt.“ Sie hat auch nichts dagegen. „Lieber das, als sich mit den Junkies herumtreiben“, sagt sie. Die Mannschaft, für die er – wie die Mutter sagt – lebt, heißt Wisła. Wie alle Welt in Krakau weiß, sind die Todfeinde der Wisła-Fans jene der Mannschaft Cracovia. Mit dieser Rivalität ist nicht zu scherzen. Nach einem Spiel zwischen den beiden Mannschaften im März 2005 wurde ein junger Bursche, der den Wisła-Schal trug, von Cracovia-Fanatikern auf offener Straße getötet. Von ihrem Auto aus sahen sie ihn auf dem Gehsteig gehen, einer von ihnen sprang aus dem Auto und versetzte dem Jungen den tödlichen Messerstich, dann verschwanden sie. Kurz danach hat sich das Wisła-Lager gerächt. Sein Opfer hat das Glück gehabt, zu überleben, aber nur dank einer Polizeiwache vor seinem Spitalzimmer. Frau Pawłowska erklärt weiter: Für die Kumpels ihres Sohns, die alle selbstverständlich auf Wisła schwören, sind die Cracovia-Spieler und ihre Fans bloß die Juden, auf Polnisch Żydzi. Entsprechend ihrem eigenen Code verwenden viele Wisła-Treue eben diesen Namen für den Feind. „Einfach so, ohne Grund!“, sagt die Mutter des Gymnasiasten.
Trotz der Bemühungen vieler Mauerbesitzer, ihr Eigentum vor Sprühdosen und Filzstiften zu schützen, bleiben die durchgestrichenen oder gar am Galgen aufgehängten Davidsterne mit dem Spruch Anty-Jude oder Jebać Żydów („F... die Juden“) hartnäckig an der Stadtlandschaft haften. Weniger im Stadtzentrum, wo es viele Touristen gibt, sehr wohl aber am Stadtrand, und noch mehr in den Vororten. Ortsfremde, die sich Sorgen machen könnten über all diese auf Mauern „hingerichteten“ Davidsterne – kaum eine dreiviertel Stunde Autofahrt von Auschwitz –, sollen sich offenbar durch die einfache Erklärung von Eingeweihten beruhigen lassen: „Das ist nur ein Graffiti-Krieg zwischen Fans von zwei Fußballmannschaften.“
Es gibt in Polen auch andere Graffitis, Graffitis, die mit Fußball nicht das Geringste zu tun haben, Graffitis in einem Stil, der schon in ganz Europa klassisch geworden ist, zum Beispiel: Polska dla Polaków! (Polen für die Polen!) Als ob man hier in einem Einwanderungsland wäre. Und abgesehen davon: Was für ein Schlag ins Gesicht dieses gastfreundlichen Volkes.
Ich sehe all dies jetzt wieder in der Erinnerung vor mir. Die Betonmauer, der tätowierte Aufzug, die Mutter des Gymnasiasten, das alles war im Jahr 2007 und auch früher. Jahre, in denen viele Polen von ganz hohen Instanzen grünes Licht dafür bekommen haben, ihre Frustrationen und Phobien hemmungslos öffentlich auf Sündenböcke abzuladen, genau wie es die da oben taten. Aber Gott sei Dank ist jene Zeit – mehr oder weniger – vorbei. Also könnte man sich fragen, ob es einen Sinn hat, heute über diese Graffitis zu schreiben. Sind sie überhaupt noch da? Und was heißt „da“? Auf welcher Mauer genau? Man könnte sich weiter fragen, ob das Problem noch aktuell ist, die politische Lage hat sich ja in Polen in der Zwischenzeit geändert. Das stimmt einigermaßen. Aber das Grundproblem ist leider immer noch aktuell. Und hier ist keineswegs nur Polen gemeint. Es gibt ja überall Mauern.
Shawn Bryan verließ im Jahr 1968 Los Angeles, Kalifornien, um seine Gymnasialzeit in Frankreich abzuschließen. Als Linguistik-Student absolvierte er das baccalauréat am Lycée Louis-le-Grand in Paris, dann studierte er Slawistik und Indoeuropäische Linguistik an der Sorbonne und der University of Chicago. Zusätzlich zu seinen Aktivitäten am Theater und als Lehrender veröffentlichte er in verschiedenen europäischen periodischen Publikationen Essays und Kurzgeschichten, viele von ihnen in Zusammenhang mit den Umbrüchen und Transformationen in Ost- und Zentraleuropa gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Von 2004 bis 2005 wurde ihm das außerordentliche Privileg zuteil, eine eigene monatliche Kolumne für Polens erstes LGBT Internet-Magazin Innastrona zu verfassen – eine Kolumne in Form von persönlichen Erzählungen, die Last-Tram Notebook (Letzte-Tramway-Notizbuch) betitelt waren. Seit 1968 hat er vornehmlich in Paris, Wien und Krakau gelebt.
I suppose it makes sense to keep a record of things only if you intend to do exactly that – keep it. There have been places in my life where, at times, I have felt the keeping need myself. Poland, for example, a country that I have called home more than once over the past thirty-six years, that is, since my first visit in 1978. The records I keep are mostly written. With the thought of possibly contributing one of these kept times and places of mine to the present volume of the Eternal Archives – whose author, by the way, also happens to have spent quite a bit of time in Poland in the late 1970s – I was recently browsing through my files, and I came across an entry dated May 2007. Today, seven years later, I have the urge to hold it up to the light to see if it (the light) has changed. I see that after writing the piece I even gave it a title:
“Harmless” – The diagonally slashed Star of David with the inscription anty-Jude (“Jude” in German) that had been scrawled on a concrete wall at the entrance to a housing complex on the southern edge of Cracow, has, after five months, finally disappeared under a fresh layer of grey paint. The local housing management must finally have found the means, in the spring, to have the anti-Jew star – on the wall here since Christmas – painted over. The graffiti was approximately three feet high and five feet wide, and it was the only graffiti in sight at this spot. It would have been difficult not to see it: here, between a bus stop and a tram stop, the main access to the housing complex opens into a heavily trafficked avenue.
Hardly a week after disappearing, the same graffiti has reappeared, this time on a wall next to the elevator in a nearby apartment building. You step into the elevator, and there they are again: Stars of David, struck through with a diagonal, and anty-Jude. Crudely done with a black marker, the graffiti covers all three walls of the elevator as well as the folding door. Here too, as in the entrance to the building, this is the only graffiti you see.
Mrs. Pawłowska, mother of a fourteen-year-old schoolboy, gladly talks about her son, who “lives for soccer”. This is all right with her. After all, “It’s better than hanging out with the junkies,” she says. The team that he, as she puts it, “lives for” is called Wisła. As everyone in Cracow knows, the mortal enemies of the Wisła fans are the Cracovia fans. This rivalry is no joke. In March 2005, after a game between the two teams, a young boy wearing a Wisła scarf was killed in broad daylight by Cracovia fanatics. From their car, they saw him walking down the busy street, one of them jumped out of the car with a knife and stabbed the boy, and they vanished. Shortly afterwards, boys from the Wisła side took their revenge. (Their victim had the good fortune to survive, but only thanks to a police guard in front of his hospital room.) Mrs. Pawłowska explains further: for her son’s pals, who – need it be said? – are all Wisła true and blue, Cracovia and its supporters are simply the Jews, in Polish Żydzi. In their established code, this is the name that Wisła fans like these use for the enemy. “For no particular reason,” says the schoolboy’s mother.
In spite of efforts on the part of owners of walls to protect their property from spray cans and felt markers, the crossed-out Stars of David – or Stars of David hanging from gallows – with the slogan anty-Jude or Jebać Żydów (“F… the Jews”) seem to cling stubbornly to the local urban landscape. Less in the city center, where there are a lot of tourists, more on the edges of town, and more still in the suburbs. Out-of-towners who might be alarmed by the sight of all these Stars of David “executed” on walls – a mere 45-minute drive from Auschwitz – are apparently supposed to be relieved to learn from locals in the know that this is “only a graffiti war between the fans of two soccer teams”.
You see other graffiti too, graffiti that has absolutely nothing to do with soccer, graffiti, for example, in a style that has become classic all over Europe: Polska dla Polaków! Poland for the Poles. As if this were a country of immigrants. And besides, what a slap in the face for this hospitable people.
I see all of this before me now in my memory. The concrete wall, the tattooed elevator, the schoolboy’s mother. The year 2007. That was a year, or rather, those were years in which Poles were given the green light from way up high to unload their frustrations and fears onto scapegoats, without scruple, publicly, just as so many of those way up high were doing at the time. But, thank heavens, those times are behind us now, more or less. So maybe the question could be asked whether it makes sense to write about this graffiti today. Is it even still there? But what does “there” mean? On which wall exactly? The question could also be asked whether the problem itself is still of current concern – the political situation in Poland has changed since then. That is true, more or less. But the basic problem will unfortunately always be of current concern. And here I don’t mean just Poland. After all, there are walls everywhere.
Shawn Bryan left Los Angeles, California, in 1968 to finish his secondary education in France. A language scholar, he took the baccalauréat at the Lycée Louis-le-Grand in Paris, then studied Slavic and Indoeuropean linguistics at the Sorbonne and the University of Chicago. In addition to his activity in theater and in teaching, for years he has been contributing to various European periodical publications as author of essays and short stories, many of which have been connected with the upheavals and transformations in Eastern and Central Europe in the latter part of the 20th century. From 2004 to 2005 he was given the exceptional privilege of writing his own monthly column for Poland’s first LGBT web magazine, Innastrona, a column that took the form of personal narratives entitled Last-Tram Notebook. Since 1968 he has lived primarily in Paris, Vienna and Cracow.