Herbst 1972, Prater Wien, Flipperhalle. Ich beobachte eine Gruppe um einen Flipper stehender Spieler: Einer von ihnen bewegt Laden von Zündholzschachteln, die er sich zwischen die gespreizten Finger geklemmt hat, schnell über ein auf der Glasfläche des Flippers liegendes Kügelchen und lässt sie dann fallen. Die anderen wetten, unter welcher Lade das Kügelchen liegt. Der Einsatz: 100-Schilling-Scheine. Im Geist spiele ich mit und sehe zu meinem Erstaunen, dass alle Spieler meiner Meinung nach falsch setzen und verlieren. Meine Vermutungen hingegen, wo das Kügelchen liegen würde, wären alle richtig gewesen – demnach hätte ich schon eine Menge gewonnen, wenn ich nur mitgespielt hätte. Nach einigen Spieldurchgängen werde ich eingeladen, mitzuspielen. Innerhalb kürzester Zeit ist mein Geld weg, blitzschnell verspielt. Dann meine Armbanduhr: verloren. Ich werde getröstet: Ich könne ja alles schnell wieder zurückgewinnen, könne ja meine Kamera einsetzen! Stimmt: Um meinen Hals hängt – am Ledergurt im ledernen Futteral – tatsächlich die 2-äugige Rolleiflex meines Vaters. Eine schwere Entscheidung: Auf die Chance verzichten, das verspielte Geld und die verlorene Uhr (ein mir besonders wichtiges Erinnerungsstück) wieder zurückzugewinnen – sprich, alles loszulassen – oder mit letztem Einsatz versuchen, das Glück zu biegen? Nach innerem Zittern ein kurzes Aufleuchten: Die Kamera als Einsatz wäre mit Sicherheit in Kürze weg, also besser schmerzlich Geld und Uhr endgültig zurücklassen. Ich entziehe mich der Gruppe und den drängenden Zureden, wende mich ab und entferne mich.
Aber, denke ich mir – ich will zumindest ein Foto haben, ein Foto machen vom Ort des Geschehens, von der Situation meines Verlus-tes und meiner Niederlage. Ich öffne das sperrige Lederfutteral, klappe den Sucherschacht der Rolleiflex hoch, stelle scharf auf die Gruppe um den Flipper und drücke auf den Auslöser der Kamera.
Sofort bin ich umringt. „Host Du uns jetzt fotografiert? Gib’ ma sofort den Film her oder Du host an Bauchstich!“ Mit zittrigen Fingern also die Kamera aus dem Lederfutteral geschält, den noch unbelichteten Filmteil mit abgedecktem Objektiv verschossen, den Film zurückgespult, die Kamera geöffnet und den Film übergeben. Geld für den Film wird mir zugesteckt. Später höre ich vom Geldwechsler der Flipperhalle: Ich sei ja ein kompletter Idiot gewesen – die Gruppe hätte natürlich gemeinsame Sache gemacht.
Was darf ich also fotografieren?
Darf ich Männer fotografieren, die am helllichten Tag gegen Litfaßsäulen pissen? Auf der Straße liegende Besoffene? Dealer in der U-Bahn? Wenn ich schlafende Obdachlose fotografiere: Ist das Sozial-pornographie und verstört meine gutmeinenden Freunde?
Die Antwort darauf ist für mich einfach: Ja, ich darf alles fotografieren – weil ich auch alles anschauen darf und anschauen muss. Selbstverständlich darf ich das alles. Überhaupt keine Frage.
Was darf ich nun veröffentlichen?
Mitglieder eines Coca-Cola-Dosen verteilenden Rollkommandos – eines selbsternannten SWAT-Teams auf der Mariahilferstraße in Wien – wollten mir erklären, dass ich sie nicht fotografieren dürfe. Zum Teufel! Seit Jahren beobachte ich auf den Fahrten ins Studio in den U-Bahnen Drogendealer und Klientel, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ab und zu versuche ich, sie zu fotografieren. Ganz selten, unscharfe Bilder aus tiefen Perspektiven. In Situationen wie diesen wünsche ich mir eine Augenkamera. Die später zusammengestellten Tableaus heißen dann etwa Traveling salesmen and their customers. Ein guter Freund rät mir dringend ab, diese Tableaus zu veröffentlichen. Würde das dem rechten Lager möglicherweise Beweismaterial für ihre unsäglichen Kampagnen zuspielen?
Wozu fotografiere ich also, warum sammle ich?
Wozu fotografiere ich flachgedrückte Red-Bull-Dosen auf der Straße? Weil pro Jahr rund 5 Milliarden Red-Bull-Dosen produziert werden? Ist es eine Beweisaufnahme für das Jüngste Gericht – wie ich vor Jahren einen Vortrag zum Thema genannt habe?
Ebensee, 1979. Nach dem Tod meiner Großmutter Aloisia Promberger wurden beim Ausräumen des Dachbodens ihres Wohnhauses vom Maler Hans Kienesberger zwei Schachteln mit Glasnegativen ihres 1964 verstorbenen Mannes Johann gefunden und sichergestellt. Glasnegative mit Aufnahmen aus den Jahren 1905 bis 1925. Unter den Aufnahmen Porträts, Landschaftsaufnahmen, Fotos seines Arbeitsplatzes, der Saline Ebensee, seiner Arbeitskollegen, aber auch Fotos von aufgebahrten Toten, Erwachsenen und Kindern.
Diese Negative habe ich später kontaktkopiert und über die Aufnahmen meine Diplomarbeit verfasst: Ein Versuch, für den Amateurfotografen Johann Promberger einen Platz in der Geschichte der Fotografie zu finden. Diese Fotografien bilden das Fundament des Ewigen Archives.
Ein weiterer historischer Pfeiler ist der Nachlass meines Vaters Karl Abel Putz: Er hinterließ Dias, Negative und Fotos, die er im Irak in den Jahren 1958 und 1959 aufgenommen hatte, in der Zeit, als er eine österreichische Fachschule in Mosul mit aufbaute. Bis zum Sturz von König Faisal (1958), bis ein abgeschnittenes Ohr im Brief als Warnung an die Schule geschickt wurde. Als fotografische Dokumente verblieben Landschaftsbilder, Bilder von Menschen, Pferden – Aufnahmen ohne Bildunterschriften, ohne Namen, Ortsangaben und Datierung. Aus der Zeit gerissen, in Schachteln gelagert. Wie gehe ich um mit Bildern, zu denen jede authentische information fehlt? Was können Bilder überhaupt erzählen? Das sind Fragen, die Teil des Diskurses im Ewigen Archiv sind.
Das Ewige Archiv wurde im Jahr 1980 von mir gegründet und versteht sich als dynamische Enzyklopädie zeitgenössischer Identitäten. Es ist die umfangreichste nichtkommerzielle Bilddatenbank Österreichs, mit einem Bildbestand ab dem Jahre 1905, mit Metadatenverzeichnis und detaillierter Beschlagwortung. Schwerpunkt ist die permanente fotografische Notiz: Spurensicherung des Alltags, Dokumentation und Vergleich unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsräume: Wien und Montréal, Ebensee und Poznan´ , London, New York, Berlin, Lissabon ebenso wie etwa Paris, Vandans, Mossul und Rom. Diese Aufzeichnungen verdichten sich zu größeren Bezugsräumen und bilden ein facettenreiches Gewebe verschiedenster Realitäten mit besonderem Augenmerk auf das Spektakulär-Unspektakuläre. Bilder der Sammlung werden exemplarisch zu themenbezogenen Tableaus zusammengefasst.
Das Ewige Archiv ist eine Markierung in der Zeit.
Nicht mehr – aber auch nicht weniger.
Autumn, 1972, Vienna Prater, pinball arcade. I observe a group of players standing around a pinball machine: one of them has a few empty matchboxes clamped between his fingers and moves them quickly over a little ball placed on the glass surface of the machine. He lets them fall. The players place their bets and try to guess which matchbox now covers the little ball. The stakes: 100-schilling bills. Mentally I play along, and I discover to my astonishment that the players’ guesses are always wrong – at least so it seems to me – and each time they all lose. My own silent guesses, however, are always correct; and I say to myself that if only I had played for real, I’d have won a load of money. After a few rounds, I’m invited to join in. In no time, all my money is gone. Then my wristwatch too – gone. But all is not lost, I’m told. I can easily win it all back – I can bet my camera! True. Hanging around my neck on a leather strap in its leather case is my father’s twin-lens Rolleiflex. A difficult decision: should I pass up a chance to win back all my lost money and the wristwatch (a particularly precious memento), pass up a chance to go for it all? Or should I make a final effort to force Luck’s hand? After a bit of quiet trepidation, a moment of good sense: if I staked my camera, it would be gone in seconds, so, as much as it hurts, I’d better just forget the money and the wristwatch. I step back from the group, they try to persuade me to stay, but I don’t listen to them, I turn and walk away.
But then, a thought – I should at least take a photograph, a photograph of the scene, of the place and circumstances of my loss and defeat. I open the stiff leather case, pop up the Rolleiflex viewfinder, bring the group standing around the pinball machine into sharp focus and press the trigger. No sooner have I done so than I’m surrounded on all sides. “Did you just take a picture? Hand over the film, buddy, and now! Otherwise you get a knife in your gut!” So, my fingers shaking, I pull the camera out of the case, cover the lens, shoot the rest of the film – frame by frame, rewind, open the camera and hand over the spool. Someone shoves some money into my hand for the film. Later, the coin changer in the pinball arcade tells me I really must be an idiot – it was obvious to anyone that all those guys were in cahoots.
So what am I allowed to photograph?
Am I allowed to photograph men pissing on advertising pillars in broad daylight? Drunks lying in the street? Dealers in the subway? If I photograph homeless people sleeping, is this social pornography and will it offend my right-minded friends?
For me, the answer is simple: Yes, I’m allowed to photograph everything – because I’m also allowed to see everything, because I must see everything. I can photograph everything. It’s obvious. No question about it.
But what am I allowed to publish?
Members of a Coca-Cola commando handing out free cans of Coke – a self-appointed SWAT-team on Vienna’s Mariahilferstrasse – tried to tell me I wasn’t allowed to photograph them. What the hell? For years I’ve been observing drug dealers and their clientele in the subway on my way to and from the studio, at all times of day and night. Once in a while I try to get them on film. Only very rarely, actually, and the shots are unfocused, taken from a deep angle. In situations like these, I wish my eye had a built-in camera. The tableaux I later put together might be given titles such as “Traveling salesmen and their customers”. A good friend of mine hastens to talk me out of publishing these tableaux. After all, wouldn’t they be just what right-wingers need for their slur campaigns?
So why do I take photographs? Why do I go on collecting like this?
Why do I photograph flattened Red Bull cans in the street? Is it because roughly 5 billion Red Bull cans are produced every year? Do I see this as a taking of evidence for the Last Judgment, as I entitled a lecture on the subject some years ago?
Ebensee, Upper Austria, 1979. After the death of my grandmother, Aloisia Promberger, the painter Hans Kienesberger, while cleaning out her attic, discovered and salvaged two boxes full of glass negatives that had belonged to her husband, Johann, who died in 1964. Glass negatives of photographs taken between 1905 and 1925. They included portraits, landscapes, photographs of the place where he worked – the saltworks at Ebensee – photos of his fellow workers, but also photos of the dead, adults and children.
I later made contact prints from the negatives and wrote my diploma thesis on this material, with the title: An Attempt to Find a Place in Photographic History for the Amateur Photographer, Johann Promberger. These photographs are the foundation stone of the Eternal Archives.
A further historical pillar in the structure is what I inherited from my father, Karl Abel Putz. He left me slides, negatives and prints, photographs that he took in Iraq in the years 1958 and 1959, when he was part of a team sent to build an Austrian professional training school in Mosul. Until the overthrow of King Faisal, until an amputated ear enclosed in a letter was sent to the school as a warning. Documented in photographs are landscapes, pictures of people, of horses – photographs without captions or titles, without names, dates or identification of locations. Removed from their temporal context, stored away in boxes. How do I deal with photographic material that totally lacks authentic data? Just how much can the pictures themselves tell us? These are some of the questions that form the discourse of the Eternal Archives.
The Eternal Archives were founded by me in 1980, and can be understood as a dynamic encyclopedia of contemporary identities. They are Austria’s most comprehensive non-commercial database with images dating from 1905 and a metadata index with detailed keyword referencing. The focus is on photographic note-taking: preserving traces of everyday activity, documenting and comparing a variety of places where people live and work – Vienna and Montreal, Ebensee and Poznan, London, New York, Berlin Lisbon, as well as Paris, Vandans, Mosul and Rome. These photographic records interconnect to form a multi-faceted network of greatly differing realities, with particular attention being paid throughout to the profane, the normal, and thus pointing out its importance. Images have been aggregated into thematic tableaux.
The Eternal Archives are a marking in time.
No more – but also no less.