Schon allein der Titel des Buchs will nicht aus den Dunkelwelten des Universums kommen. New Stuff sagt modern und zeitgerecht: Hienieden wird fortgesetzt, es gibt das Vorher, den Anfang mit allem – und wer den Beginn der Eskapade, der ganzen Bildgeschichte versäumt und nicht kennt – selber schuld. Es geht bei New Stuff in seiner apostrophierten Kontinuität nicht um billige Vertrauensbildung, dass hier ein Werk etwa und nicht das Produkt einer Eintagsfliege im Entstehen ist, nein, die Fütterung mit neuem Material, das Hinzufügen neuer Daten in den ohnehin schon prallen Speicher ist simpel gemeint, nichts sonst. Kurz ist das Leben, ewig sein Archiv.
Wir sind hier – erinnern wir uns! – auf der Erde, wenn auch als Megahaufen stumpfsinnig von uns selbst verehrt. Er könnte auch heißen: „Die nächste Welt, bitte“, um Abwechslung zu schaffen, aber so heißt der vorliegende Band mit seinen zahllosen Bildchen und Geschichtchen nun einmal nicht. Die ständige Wiederholung ist gefragt – damit ein Wesentliches endlich hinterfragt sei. Und dann kann man sich fragen, ob das mit dem Additiv, mit der Wiederholung, der Serie und dem Kompilieren ewig so weitergehen kann und wohin das führen wird. Das neue/alte Material mit utopisch unterentwickelter Epidermis schaut einem unverhüllt entgegen: als erbarmungslose Variantenproduktion, als Produkte einer materialistischen Philosophie, als enttarntes Muster eines sozialen Zusammenhangs.
Es gibt ein Misstrauen gegen das Bild, das dem Bild nicht das Mindeste glaubt. Die mythologische Sprachanbetung weiß, was das Wort betrifft, selbst davon ein Liedchen zu singen. Wort und Bild sind auf Dauer in die Binsen gegangen. Übrig bleiben die Dinge, die Binsen und verschiedene pathologische Anatomien. Um jene Dinge geht es in diesem Buch, die beweiskräftiger sind als jedes Vertuschungsmanöver des totalitären Zeitgeists. Beim Blättern im Buch: „Das alles hat man doch schon irgendwo gesehen. Dem ist man erst kürzlich begegnet.“ Aber man täusche sich nicht. Es gibt das Lineare nicht – außer im Denken. Und dieses macht Angst.
Alles ist hier auf der Flucht. Das Archivieren selbst scheint als Vorgang, als selbstreferenzielles Muster und Monster hingegen ewig und ohne Alter zu sein, keine Radiocarbonmethode ließe sich hier anwenden. Die ganze Welt ist nämlich ein Archiv, wiewohl die vorgefundenen, gegebenen Gegenstände sich datieren lassen, in allen Höhlen des Amazonas liegen sie herum und auch sonst wo. Selbst wo kein Mensch ist, ist noch ein zu Archivierendes im Außen, ist ein Alter. Externe Medien, als da sind: Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder oder die Federn des Vogels Garuda, schließlich jede Menge Anorganisches. Irgendein Gegenstand war immer als erster da, von da an ein Regieren. Man vergisst im Alltag nur immer wieder die vielen kleinen Hinweise.
Dem Archiv verschrieben.1) „Nichts ist weniger sicher, nichts weniger eindeutig heute als das Wort Archiv“ und nichts „trüber und verwirrender heute als der in diesem Wort Archiv archivierte Begriff“, gesteht Derrida. Der Titel des französischen Originals lautet übrigens Mal d’archive und ist vieldeutig. Der Begriff „mal“ – Mühe, Weh, Leid, das Übel, das Böse – kann einerseits im Genitivus subiectivus wie auch obiectivus mit dem des Archivs verbunden sein, also ein dem Archiv inhärentes Übel oder gar das Archiv selbst als Übel bezeichnen, andererseits – wie etwa in „mal du pays“ – auf eine Sehnsucht, ein Begehren hinweisen, womit sich die Verquickung mit der Psychoanalyse ergibt: Freuds Unbewusstes wurde von Derrida als Entwurf für eine Archiviologie gelesen. Daraus folgt die mediale Speicherung als fatale Wiederholung.
Kein Archiv ohne „Draußen“, wobei „Draußen“ einen „externen Träger“ (Derrida) meint. Genau hier kommt nach Derrida Psychoanalyse ins Spiel: „Wenn es kein Archiv gibt ohne Konsignation an irgendeinem äußeren Ort, der die Möglichkeit der Memorisierung, der Wiederholung, der Reproduktion oder der Re-impression sicherstellt, so sollten wir uns zudem in Erinnerung rufen, dass die Wiederholung selbst, die Logik der Wiederholung, ja der Wiederholungszwang nach Freud untrennbar bleibt vom Todestrieb. Also von Destruktion.“2) Und damit ist das „mal d’archive“ festgestellt: „Der Todestrieb [...] bedroht [...] jede Prinzipalität, jedes archontische Primat, jedes Begehren nach einem Archiv. Wir werden dem später den zusätzlichen Namen le mal d’archive, ‚das Archivübel’, geben.“3)
Das Draußen, eine gewisse Äußerlichkeit: die Einkaufswägelchen des Supermarkts, ineinandergeschoben und geschützt durch Plexiglaskojen. Wenn das Archiv etwas bewahrt, muss es materiell verräumlicht sein. Denn erst mit dieser Verräumlichung wird es wiederholbar, und es ist die Wiederholbarkeit, über die wir bewahren. Wiederholung ist jedoch in der Dekonstruktion kein einfacher Vorgang, im Gegenteil. Wiederholbarkeit ist die Voraussetzung für das Speichern, aber sie stellt zugleich den Inhalt nicht still, denn der Wiederholung ist gemäß der Theorie der Dekonstruktion selbst ein Moment der Entfremdung immanent.
Es ist immer ein Erbe anzutreten. Mitten im „Archivübel“ – die Versuchung sondergleichen –, also mitten in den Wäldern Amazoniens, entdeckt mit schwellender Brust ein gewisser Humboldt Pflanzen, Steine und Tiere. Er jauchzt, bringt alles heim, will nichts verkomplizieren. Die errichteten Archive als Simulationen des Diesseits. Und heutzutage? Die zu Unrecht verschrienen und pathologisierten Messies mit ihren Sammlungen von alten Plastiksäcken, Zeitungen, Tellern, Knöpfen, halb zerfallenen Borkenkäfern, Wärmedämmmitteln, Schaufensterpuppen, Gartengerät, Bleistiften, Colaflaschen, Batterien, Bilderrahmen, Readers-Digest-Heften, Kohleresten, Ölkannen, Zimbeln, Scheißspateln, Weihrauchschalen, Apfelkernen und dergleichen mehr – auch sie sind die Archivare der Gegenwart, und die Dialektik der Unzähmbarkeit der Dinge steht nicht still.
Ganz neu fängt im Leben gar nichts an. Man wird dieses Anhäufen, dieses Kompilieren nie mehr vergessen. Ganz verschollen geht selten etwas. Ins scheinbar Ewige hinein archiviert versetzt das Archiv einen in die unangenehme Lage, über den Wahnsinn der Warenwelt und der wahren Welt nachzudenken. Wir leben nun einmal in Bad Ischl, Poznan´ , Wien, Saalfelden, Gmunden, Klagenfurt und Langwies. Geht man um die Sachen herum, dann das meist sehr. Die Grammatik der Bilder macht wie im Sprechen und Schreiben Vorschriften. Wir sprechen nun einmal eine Sprache. Diese Sprache haben wir mitgenommen, mit ihr arbeiten wir.
Die Bilder, inflationär und heimtückisch, werden hingegen immer mehr das Mittel, um Anschauung zu kaufen. Dem will sich ein absichtsloses, unschuldiges Kompilieren entgegenstemmen. Ein Wegtun des Drückenden, Falschen, Hemmenden wird dann unmöglich, im Gegenteil. New Stuff reiht nicht nur aneinander, setzt nicht nur Inkompatibles in Beziehung, New Stuff will den ganzen Unsinn unserer Scheinwelten aufbrechen. Großes Vorhaben, das zweifellos zum Scheitern verurteilt ist. Der Tag wird immer grauer, und der kleine Maxi darf nur noch schwefeln und nebeln. Fernab eines ideologischen Wischiwaschis will das Ewige Archiv hin- und verweisen, um den Bilderbrei leicht zu verändern. Auf der Breitseite der Bildwelten kann nichts verwischt werden. Längsseitig befindet sich selbstverständlich Neuland. Dieses betritt PP mit Humor und Schärfe.
20. März 2014 – Da liegt der tote ukrainische Soldat. Ein Hund bellt ihn an. Niemand weiß, wie der Soldat heißt. Ein Kind kommt daher. Dem erzählte der Soldat, als er noch lebte, eine Geschichte. Der Wald, in dem der Soldat liegt, weint. Das in eine Schlucht gefallene Dorf in der Nähe beherbergt einen alten Morgen. Da liegt der Soldat. Knochen. Das Vaterland will nicht mehr Fleisch werden. Ihr könnt säen, was immer ihr wollt, da fließt kein Bach mehr, da gibt es kein Wasser. Komm, Südwind, berühre die Wurzeln der Erde.
Fußnoten:
1) Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997. Dieser Text, geschrieben im thematisch etwas schwer zu verfolgenden, sprunghaften Stil, den Derrida in den Neunzigerjahren pflegte, wurde erstmalig am 5. Juni 1994 in London auf dem internationalen Kolloquium Memory: The Question of Archives vorgetragen. Er trug ursprünglich den Titel Le concept d’archive. Une impression freudienne und verweist damit auf Derridas früheren Text, Freud und der Schauplatz der Schrift.
2) a.a.O., S. 22 3) a.a.O., S. 26
Ingram Hartinger, geb. in Saalfelden, lebt seit 1979 in Kärnten. Gedichte, Prosa, Essays, Radioarbeiten; zuletzt erschienen: Das verschmutzte Denken, Klagenfurt 2014
The very title of the book tells us that this is nothing that comes from the obscurities of the universe. In modern language, in a language that fits the times, “New Stuff” is a way of saying: Here below, we just keep moving on – there is what came before, what it all started with, and those who missed out on the beginning of the escapade, those who don’t know how the whole picture-story began, have only themselves to blame. “New Stuff”, in its apostrophized continuity, is not a lame attempt at convincing us that “a work” is in the making here, rather than merely the day’s work of a mayfly. No, the feeding of new data, the addition of new material to an already replete stock is done here with artless intent, simply. Life is short, its archive eternal.
Here – we must remember – we are on Earth, if only as a mega-heap of fatuous self-admirers. For the sake of change, the title might also have been “The Next World, If You Please”; but that is not what it is called, this volume with its countless little pictures and all the little stories it has to tell. Constant reiteration is called upon here in order to call basic things into question. But then we can ask ourselves whether the additives, the reiteration, the series, the compiling can go on forever – and where it will eventually lead. The new/old material, with its utopistically underdeveloped epidermis, looks straight at you undisguised – a relentless production of variants, products of a materialistic philosophy, an exposed pattern of a social interrelationship.
There exists a distrust of pictures that doesn’t believe the slightest thing pictures have to tell. As for words, mythological language-worship has a thing or two to say even about them. Word and picture have gone up in smoke for good. What remains are the things themselves, the smoke, and various pathological anatomies. These things are precisely what this book is about, things that constitute evidence more conclusive than any cover-up maneuvers of the totalitarian zeitgeist. One leafs through the book, “But I’ve seen all of this somewhere. I came across it just recently.” But let there be no mistake. There is no such thing as the linear – except in thought. And this frightens us.
Everything here is fleeting. The act itself of archiving, as a procedure, as a self-referential model and monster, seems, by contrast, eternal and ageless, no radiocarbon method can be applied here. The whole world is, after all, an archive – objects encountered by chance, preexisting objects, datable as they may be, lie scattered about in all the caverns of the Amazon, and elsewhere. Even where there is no human being, there is something to be archived on the outside, there is an age. External mediums such as bones, cartilage, tendons, ligaments or Garuda feathers, not to mention endless quantities of the inorganic. Some object or other was always there first, and the objects then took over. But in our everyday lives, we keep losing sight of all the little reminders of this.
Archive fever.1 “Nothing is less reliable, nothing is less clear today than the word ‘archive’ ”, and nothing “more troubled and more troubling today than the concept archived in this word ‘archive’ ”,2 as Derrida confesses. The title of the work in the French original is, incidentally, “Mal d’Archive” and is ambiguous. On the one hand, the notion of “mal” – trouble, ache, suffering, evil, malice – can be combined with that of “archive” both in a subjective genitive and in an objective genitive relationship, in other words, it can signify an evil inherent in the archive, or the archive itself seen as an evil; on the other hand – as in the expression “mal du pays” – it can refer to a longing, a yearning, which links it to psychoanalysis: Freud’s unconscious was construed by Derrida as a blueprint for an “archiviology”. Hence, storage in the various forms of media seen as fatal repetition.
There is no archive without an “outside”, “outside” signifying “external substrate” (Derrida). This, according to Derrida, is precisely where psychoanalysis comes in: “If there is no archive without consignation in the external place which assures the possibility of memorization, of repetition, of reproduction, or of reimpression, then we must also remember that repetition itself, the logic of repetition, indeed the repetition compulsion, remains, according to Freud, indissociable from the death drive. And thus from destruction.”3 And here we have it, then, the “mal d’archive”: “The death drive […] threatens […] every principality, every archontic primacy, every archival desire. It is what we will call, later on, le mal d’archive, “archive fever”.4
The outside, a certain exteriority: supermarket shopping carts telescoped in plexiglass shelters. If the archive is to preserve, it must be materially spatialized. For only through spatialization can anything become repeatable, and it is by virtue of repeatability that we preserve. In deconstruction, however, repetition is no simple process – on the contrary. Repeatability is the precondition for storage; but this does not mean that content is rendered immutable, for according to the theory of deconstruction, there is even an aspect of alienation intrinsic to repetition.
One is always coming into an inheritance. In the midst of “archive fever” – supreme temptation –, in the midst, that is, of the Amazon forests, a certain Humboldt, with swelling breast, discovers plants, rocks, and animals. He rejoices, brings everything home, wants to keep things simple. Archives erected – simulations of the world we live in. And today? The “messies”, compulsive hoarders of undeserved ill repute, unjustly pathologized, with their collections of old plastic bags, newspapers, plates, buttons, half-decomposed bark beetles, bits of thermal insulation, mannequins, garden tools, pencils, cola bottles, batteries, picture frames, issues of Reader’s Digest, burnt coals, oil cans, cymbals, dung scoops, incense bowls, apple cores, and all the rest – they too are the archivists of the present, and the dialectic of the indomitability of things forges ahead.
Nothing in life begins totally from scratch. This amassing, this compiling is here to stay. Rarely does anything disappear without a trace. The archive, itself archived into something seemingly eternal, puts us in the uncomfortable position of having to reflect on the madness of the world of goods (der Warenwelt) and the real world (der wahren Welt). We live in Bad Ischl, Poznan, Vienna, Saalfelden, Gmunden, Klagenfurt and Langwies. When we go around things, we don’t do it by halves. Like the grammar of speaking and writing, the grammar of pictures generates rules. And indeed we speak a language. We have appropriated this language, we work with it.
Pictures, on the other hand, inflationary and insidious, are increasingly becoming the means of payment in the commerce of perception. A compilation that lacks all intention, an innocent compilation, makes a stand against this. It is then no longer possible to remove from sight the oppressive, the false, the inhibiting – on the contrary. “New Stuff” does not merely juxtapose, it does not merely place incompatibles in a relation. “New Stuff” seeks to crack the shell around the whole absurdity of our illusory worlds. Quite an undertaking – and doomed to failure, no doubt. The long and the short of it is that these image worlds allow nothing to be obliterated, and, consequently, they lead us to new ground. Peter Putz treads this new ground with humor and acuity.
20 March 2014 – There lies the dead Ukrainian soldier. A dog barking at him. Nobody knows the soldier’s name. A child appears. While the soldier was still alive, he told the child a story. The woods in which the soldier lies are crying. Nearby, a village fallen into a ravine is host to a morning that is already old. There lies the soldier. Bones. The native land is tired of becoming flesh. You can sow whatever you like, no longer does a stream flow here, there is no water. Come, south wind, let the roots of the Earth feel your touch.
References:
1) Jacques Derrida, Archive Fever: A Freudian Impression (original title: Mal d’Archive: une impression freudienne). Translated by Eric Prenowitz. Chicago: University of Chicago Press, 1996. This text, written in the style characteristic of Derrida in the 1990s – thematically somewhat disjointed and difficult to follow – was first presented as a lecture on 5 June 1994 in London during an international colloquium: “Memory: The Question of Archives”. The text was originally entitled “Le concept d’archive: une impression freudienne”, which pointed to an earlier text by Derrida, “Freud et la scène de l’écriture”.
2) Op. cit., p. 90 3) Op. cit., pp. 11-12 4) Op. cit., p. 12
Ingram Hartinger, born in Saalfelden, has been living in Carinthia since 1979. Poetry, prose, essays, radio features. Recently published Das verschmutzte Denken (Klagenfurt, 2014).